6 - Der Name Ossip kommt auf Dich zu - Zur Rezeption russischer Literatur in der deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts am Beispiel Paul Celans [ID:1709]
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Meine Damen und Herren, die Geschichte sowohl der deutschen als auch der russischen Literatur bietet

eine Vielzahl von Belegen für die intensive und für beide Literaturen fruchtbare Wechselwirkung

zwischen deutschen und russischen Autoren. Diesen 18. Jahrhundert beginnenden Beziehungen haben sich

im 19. Jahrhundert verstärkt, um dann im 20. Jahrhundert besonders intensiv weitergeführt

zu werden. Ich brauche hier nur auf Namen wie Thomas Mann oder Rainer Maria Rilke zu verweisen,

in deren Werken, vor allem in deren Frühwerk, die Spuren russischer Lektüren unübersehbar sind,

die Auseinandersetzung mit russischer Literatur ist sowohl für den jungen Rilke als auch für

den frühen Thomas Mann von zentraler Bedeutung gewesen. Einen weiteren Autor, für dessen

künstlerische und literarische Entwicklung die Beschäftigung mit russischer Literatur von

entscheidender Bedeutung gewesen ist, möchte ich Ihnen heute Abend vorstellen. Es ist Paul Zehlan,

der sich fast sein gesamtes Leben mit russischer Literatur befasst hat und in dessen Werk die

Spuren dieser Beschäftigung unübersehbar sind. Du darfst mich getrost mit Schnee bewirten,

so oft ich Schulter an Schulter mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer,

schrie sein jüngstes Blatt. Von ungeträumtem Geätzt wirft das schlaflos durchwanderte Brotland

den Lebensberg auf. Aus seiner Krume knetest du neu unsere Namen, die ich ein deinem gleichenes

Aug an jedem der Finger abtaste nach einer Stelle, durch die ich mich zu dir heranwachen kann,

die helle Hungerkerze im Mund. In die Rillen der Himmelssäure im Türspalt pressst du das Wort,

dem ich entrollte, als ich mit bebenden Pfosten das Dach über uns abtrug, schiefer um schiefer,

silber um silber, dem Kupferschimmer der Bettelschale dort oben zulieb. Es ist vielleicht

nicht übertrieben zu sagen, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum ein Autor im

Bereich der deutschsprachigen Literatur so intensiv russische Literatur gelesen hat,

in das eigene Werk eingearbeitet hat, russische Literatur übersetzt hat, wie es Paul Celan getan

hat. Einige Aspekte dieser Beschäftigung will ich Ihnen nun im Folgenden vorstellen. Beginnen möchte

ich mit einem Zitat. Es ist alles anders als du es dir denkst, als ich es mir denke. Die Fahne weht

noch, die kleinen Geheimnisse sind noch bei sich, sie werfen noch Schatten davon, lebst du, lebe ich,

leben wir. Die Silbermünze auf deiner Zunge schmilzt, sie schmeckt nach Morgen, nach immer,

ein Weg nach Russland steigt dir ins Herz. Die karelische Birke hat gewartet. Der Name Osset

kommt auf dich zu, du erzählst ihm was er schon weiß, er nimmt es, er nimmt es dir ab mit Händen,

du löst ihm den Arm von der Schulter, den rechten, den linken, du heftest die deinen an

ihre Stelle mit Händen, mit Fingern, mit Linien, was Abriss wächst wieder zusammen. Da hast du sie,

da nimmst sie dir, da hast du alle beide, den Namen, den Namen, die Hand, die Hand, da nimmst sie dir

zum Unterfand, er nimmt auch das und du hast wieder was dein ist, was sein war. Die hier zitierten

Verse eröffnen eines der sogenannten Langgedichte, die den vierten und letzten Zyklus von Paul

Zehlans Gedichtband Die Niemandsrose prägen. Dieser Band Die Niemandsrose gehört in die

mittlere Periode von Paul Zehlans Schaffen und vornehmlich in diesem Gedichtband sind Spuren

der Auseinandersetzung mit russischer Literatur unübersehbar. Die zitierten Verse sind für unsere

Thematik hier zunächst von Bedeutung, weil sie das Thema Alterität, weil sie die Auseinandersetzung

mit dem anderen ansprechen. Verstehbar ist das andere zunächst als das andere des Ich, als ein

anderes Jenseits von Gedanken und Vorstellungen, durch die sich das sprechende Ich bewusst

reflektiert, sich selbst definiert und bestimmt. Als ein Du kann es auch eine andere Person sein,

ein Dialogpartner, der wie so oft bei Paul Zehlans nicht näher bestimmt ist und schließlich betrifft

es das andere einer Kultur hier in der Begegnung mit Russland, mit russischer Literatur, mit

bestimmten russischen Autoren. Die Verse sprechen im Namen Ossip vor allem den russischen Dichter

Ossip Mandelstamm an und in diesem Kontext artikulieren sie auch die Besonderheit der

Begegnung mit diesem Autor und verbunden damit die Besonderheiten der Begegnungen und Auseinandersetzungen

mit russischer Literatur. Wichtig in diesem Zusammenhang ist zunächst die Akzentuierung

der Schwelle des Übergangs. Die schmelzende Silbermünze verweist in Anspielung auf die

griechische Mythologie vor allem auf den Charon Mythos, auf die Grenze zwischen Leben und Tod,

zwischen Sprechen und Verstummen. Charon ist bekanntlich der Fährmann der griechischen

Mythologie, der mit seinem Boot die Schatten, die Seelen der Toten über die Flüsse der Unterwelt

Teil einer Videoserie :

Presenters

Prof. Dr. Jürgen Lehmann Prof. Dr. Jürgen Lehmann

Zugänglich über

Offener Zugang

Dauer

00:29:11 Min

Aufnahmedatum

2000-12-07

Hochgeladen am

2018-06-21 10:12:51

Sprache

de-DE

Die Geschichte sowohl der russischen als auch der deutschen Literatur bietet eine Vielzahl von Belegen für die intensive und für beide Literaturen fruchtbare Wechselbeziehung zwischen deutschen und russischen Autoren. Diese spätestens im 18. Jh. beginnenden Beziehungen haben sich vor allem im 19. Jh. intensiviert und schließlich zu einem breiten Austausch geführt, der auch im 20. Jh. umfassend und vielfältig fortgesetzt worden ist. In diesem Zusammenhang sei nur auf Autoren wie Thomas Mann oder Rainer Maria Rilke verwiesen, in deren Frühwerk vor allem die Spuren russischer Lektüren unübersehbar sind. In der deutschsprachigen Literatur nach 1945 ist es vor allem Paul Celan, dessen literarisches Werk in besonderer und intensiver Weise von den Spuren der Auseinandersetzung mit russischer Literatur geprägt ist. Kaum ein deutschsprachiger Autor in dieser Zeit hat russische Literatur so intensiv gelesen, so intensiv in das eigene Werk eingearbeitet, so intensiv und umfassend übersetzt wie Paul Celan.

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deutsch Literatur Collegium Alexandrinum Ossip russische Lyrik Lehmann Celan
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