Meine Damen und Herren, die Geschichte sowohl der deutschen als auch der russischen Literatur bietet
eine Vielzahl von Belegen für die intensive und für beide Literaturen fruchtbare Wechselwirkung
zwischen deutschen und russischen Autoren. Diesen 18. Jahrhundert beginnenden Beziehungen haben sich
im 19. Jahrhundert verstärkt, um dann im 20. Jahrhundert besonders intensiv weitergeführt
zu werden. Ich brauche hier nur auf Namen wie Thomas Mann oder Rainer Maria Rilke zu verweisen,
in deren Werken, vor allem in deren Frühwerk, die Spuren russischer Lektüren unübersehbar sind,
die Auseinandersetzung mit russischer Literatur ist sowohl für den jungen Rilke als auch für
den frühen Thomas Mann von zentraler Bedeutung gewesen. Einen weiteren Autor, für dessen
künstlerische und literarische Entwicklung die Beschäftigung mit russischer Literatur von
entscheidender Bedeutung gewesen ist, möchte ich Ihnen heute Abend vorstellen. Es ist Paul Zehlan,
der sich fast sein gesamtes Leben mit russischer Literatur befasst hat und in dessen Werk die
Spuren dieser Beschäftigung unübersehbar sind. Du darfst mich getrost mit Schnee bewirten,
so oft ich Schulter an Schulter mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer,
schrie sein jüngstes Blatt. Von ungeträumtem Geätzt wirft das schlaflos durchwanderte Brotland
den Lebensberg auf. Aus seiner Krume knetest du neu unsere Namen, die ich ein deinem gleichenes
Aug an jedem der Finger abtaste nach einer Stelle, durch die ich mich zu dir heranwachen kann,
die helle Hungerkerze im Mund. In die Rillen der Himmelssäure im Türspalt pressst du das Wort,
dem ich entrollte, als ich mit bebenden Pfosten das Dach über uns abtrug, schiefer um schiefer,
silber um silber, dem Kupferschimmer der Bettelschale dort oben zulieb. Es ist vielleicht
nicht übertrieben zu sagen, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum ein Autor im
Bereich der deutschsprachigen Literatur so intensiv russische Literatur gelesen hat,
in das eigene Werk eingearbeitet hat, russische Literatur übersetzt hat, wie es Paul Celan getan
hat. Einige Aspekte dieser Beschäftigung will ich Ihnen nun im Folgenden vorstellen. Beginnen möchte
ich mit einem Zitat. Es ist alles anders als du es dir denkst, als ich es mir denke. Die Fahne weht
noch, die kleinen Geheimnisse sind noch bei sich, sie werfen noch Schatten davon, lebst du, lebe ich,
leben wir. Die Silbermünze auf deiner Zunge schmilzt, sie schmeckt nach Morgen, nach immer,
ein Weg nach Russland steigt dir ins Herz. Die karelische Birke hat gewartet. Der Name Osset
kommt auf dich zu, du erzählst ihm was er schon weiß, er nimmt es, er nimmt es dir ab mit Händen,
du löst ihm den Arm von der Schulter, den rechten, den linken, du heftest die deinen an
ihre Stelle mit Händen, mit Fingern, mit Linien, was Abriss wächst wieder zusammen. Da hast du sie,
da nimmst sie dir, da hast du alle beide, den Namen, den Namen, die Hand, die Hand, da nimmst sie dir
zum Unterfand, er nimmt auch das und du hast wieder was dein ist, was sein war. Die hier zitierten
Verse eröffnen eines der sogenannten Langgedichte, die den vierten und letzten Zyklus von Paul
Zehlans Gedichtband Die Niemandsrose prägen. Dieser Band Die Niemandsrose gehört in die
mittlere Periode von Paul Zehlans Schaffen und vornehmlich in diesem Gedichtband sind Spuren
der Auseinandersetzung mit russischer Literatur unübersehbar. Die zitierten Verse sind für unsere
Thematik hier zunächst von Bedeutung, weil sie das Thema Alterität, weil sie die Auseinandersetzung
mit dem anderen ansprechen. Verstehbar ist das andere zunächst als das andere des Ich, als ein
anderes Jenseits von Gedanken und Vorstellungen, durch die sich das sprechende Ich bewusst
reflektiert, sich selbst definiert und bestimmt. Als ein Du kann es auch eine andere Person sein,
ein Dialogpartner, der wie so oft bei Paul Zehlans nicht näher bestimmt ist und schließlich betrifft
es das andere einer Kultur hier in der Begegnung mit Russland, mit russischer Literatur, mit
bestimmten russischen Autoren. Die Verse sprechen im Namen Ossip vor allem den russischen Dichter
Ossip Mandelstamm an und in diesem Kontext artikulieren sie auch die Besonderheit der
Begegnung mit diesem Autor und verbunden damit die Besonderheiten der Begegnungen und Auseinandersetzungen
mit russischer Literatur. Wichtig in diesem Zusammenhang ist zunächst die Akzentuierung
der Schwelle des Übergangs. Die schmelzende Silbermünze verweist in Anspielung auf die
griechische Mythologie vor allem auf den Charon Mythos, auf die Grenze zwischen Leben und Tod,
zwischen Sprechen und Verstummen. Charon ist bekanntlich der Fährmann der griechischen
Mythologie, der mit seinem Boot die Schatten, die Seelen der Toten über die Flüsse der Unterwelt
Presenters
Prof. Dr. Jürgen Lehmann
Zugänglich über
Offener Zugang
Dauer
00:29:11 Min
Aufnahmedatum
2000-12-07
Hochgeladen am
2018-06-21 10:12:51
Sprache
de-DE
Die Geschichte sowohl der russischen als auch der deutschen Literatur bietet eine Vielzahl von Belegen für die intensive und für beide Literaturen fruchtbare Wechselbeziehung zwischen deutschen und russischen Autoren. Diese spätestens im 18. Jh. beginnenden Beziehungen haben sich vor allem im 19. Jh. intensiviert und schließlich zu einem breiten Austausch geführt, der auch im 20. Jh. umfassend und vielfältig fortgesetzt worden ist. In diesem Zusammenhang sei nur auf Autoren wie Thomas Mann oder Rainer Maria Rilke verwiesen, in deren Frühwerk vor allem die Spuren russischer Lektüren unübersehbar sind. In der deutschsprachigen Literatur nach 1945 ist es vor allem Paul Celan, dessen literarisches Werk in besonderer und intensiver Weise von den Spuren der Auseinandersetzung mit russischer Literatur geprägt ist. Kaum ein deutschsprachiger Autor in dieser Zeit hat russische Literatur so intensiv gelesen, so intensiv in das eigene Werk eingearbeitet, so intensiv und umfassend übersetzt wie Paul Celan.